6. August 2022 | EDP Wire | Jonas Wolff, Pascal Abb, Hanna Pfeifer

Gemeinsam gegen die bösen Autokratien? Zu den Fallstricken demokratischer Allianzbildung als Pfeiler einer zukünftigen deutschen Sicherheitsstrategie

Dieses EDP-Wire ist ursprünglich auf dem PRIF-Blog erschienen.

 

In Reaktion auf den Aufstieg Chinas und das zunehmend selbstbewusste Auftreten autoritär verfasster Staaten hat sich auch im deutschen außenpolitischen Diskurs das Bild eines neuen „Systemwettbewerbs“ verfestigt. Die Vorstellung, dass sich die Demokratien dieser Welt im Angesicht bedrohlicher Autokratien zusammenschließen müssen, hat durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine weiter Nahrung erhalten. Die Bundesregierung wäre allerdings schlecht beraten, diese Idee einer Zweiteilung der Welt in gute Demokratien und schlechte Autokratien zur Grundlage ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie zu machen.

Wenn akute Sicherheitsbedrohungen zunehmen, etablierte Denkweisen erschüttert werden und die Welt allzu komplex erscheint, steigt das Bedürfnis nach klaren Antworten. Strikte Unterscheidungen in Gut und Böse und vermeintlich eindeutige begriffliche Leitplanken ersetzen dann als zu komplex wahrgenommene Deutungsmuster. Das mag Menschen ein Grundmaß an zumindest normativer Sicherheit zurückgeben und dabei helfen, schwierige politische Entscheidungen zu rechtfertigen. Gleichzeitig jedoch wird so allzu oft Unterschiedliches gleichgesetzt. Analysen verlieren die nötige Genauigkeit und Sorgfalt. Im schlimmsten Fall kommt es zu Fehleinschätzungen und unerwünschten selbst erfüllenden Prophezeiungen. Die dichotome Unterscheidung zwischen guten Demokratien und gefährlichen Autokratien, die sich im Kontext des russischen Kriegs in der Ukraine steigender Popularität erfreut, birgt genau diese Gefahr: Sie ist ein undifferenziertes begriffliches Instrumentarium, das wichtige analytische und normative Unterschiede zu nivellieren droht. Zugleich droht sie, wie wir im Folgenden argumentieren, zu einer antagonistischen Blockbildung beizutragen. Damit sinken die Aussichten, eine breite Allianz für eine auf das Völkerrecht gestützte, regelbasierte Weltordnung zu bilden, während der tatsächlichen Herausbildung einer „autoritären Koalition“ Vorschub geleistet wird.

Exemplarisch für die Problematik ist die programmatische Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) zu nennen. Bereits der Titel der Rede definiert Sicherheit als „Freiheit unseres Lebens“, wobei Freiheit explizit an die Grundprinzipien liberaler Demokratie gebunden wird. In ihrer Rede betont Baerbock jedoch nicht nur die wenig kontroverse Verteidigung demokratischer Strukturen und mahnt, Deutschland müsse durch praktische Politik beweisen, „dass die liberale Idee stärker […] als autoritäre Regime“ sei. Vielmehr stellt sie einen systematischen Bezug zwischen der inneren Verfasstheit eines Staates und seiner Außenpolitik her. Ein „Bündnis von liberalen Demokratien weltweit“, die „zum Völkerrecht stehen, zur Demokratie und zu einer regelbasierten internationalen Ordnung“, habe auf Russlands Krieg „entschlossen reagiert“. Nach dem Motto, es gebe keine „gute[n] und schlechte[n] Diktatoren“, plädiert sie folgerichtig für eine härtere Gangart auch im „Umgang mit anderen autokratischen, diktatorischen Regimen, die Freiheit und Demokratie und Sicherheit in Frage stellen, die unsere internationalen Regeln brechen“. Ähnliche Formulierungen finden sich auch im neuen strategischen Konzept der NATO, das unter dem Eindruck des russischen Angriffs „Interessen, Werte und demokratische Lebensweisen“ seiner Mitglieder generell durch „[a]utoritäre Akteure“ herausgefordert sieht. Ergebnis ist eine scheinbar klare Front entlang politischer Regimetypen, eine konfrontative Antwort auf die Vorstellung eines neuen „Systemwettbewerbs“, die bereits den deutschen Wahlkampf 2021 (siehe hier und hier) und den Koalitionsvertrag der „Ampel“ geprägt hatte.

 

Das Theorem vom „Demokratischen Frieden“ als problematische Schablone der Sicherheitspolitik

In diesen Formulierungen klingt eine Idee an, die seit langem außenpolitische Debatten in westlichen Demokratien prägt: der berühmt-berüchtigte „Demokratische Frieden“. Die Grundaussage dieses Theorems, das auf Immanuel Kant zurückgeht, in den 1980er Jahren von der Forschung aufgegriffen und in der liberalen Euphorie nach dem Ende des Kalten Krieges immer populärer wurde: Demokratien führen quasi nie Krieg gegeneinander. Die genauere, empirische Auseinandersetzung mit dem Außenverhalten demokratischer Staaten führte jedoch rasch zu einem Doppelbefund: Die Friedensneigung von Demokratien untereinander geht mit einer mitunter durchaus ausgeprägten Kriegsbereitschaft gegenüber Nicht-Demokratien (bzw. als solche wahrgenommenen Staaten) einher. Mehr noch: Wie die HSFK im Rahmen ihres Forschungsprogramms zu den „Antinomien des Demokratischen Friedens“ zeigen konnte, gibt es spezifisch demokratische Kriegsgründe, wenn etwa für universell gehaltene normative Prinzipien mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollen. Paradoxerweise trug das Theorem des „Demokratischen Friedens“ selbst zur Rechtfertigung solcher „Demokratischen Kriege“ bei. Insbesondere unter US-Präsident George W. Bush (2001-2009) avancierte die These, dass Demokratien friedfertig, Autokratien hingegen intrinsisch gefährlich seien, zu einem politischen Programm, mit dem der Kampf gegen Diktatur und Unfreiheit zum Kernelement der Sicherheitspolitik und die notfalls militärische Demokratisierung autoritärer Staaten letztlich zur besten Friedensstrategie erklärt wurden. Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2006 legt hierfür beredt Zeugnis ab.

Eine zweite Forderung, die sich aus der Debatte um den Demokratischen Frieden in den frühen 2000er Jahren entwickelte, dreht sich um den Zusammenschluss in Gestalt eines „Konzerts der Demokratien“. Nachdem ähnliche Ideen bereits zuvor unter US-amerikanischen liberalen Internationalist:innen diskutiert worden waren, kam der Vorschlag eines solchen Konzerts in den frühen 2000er Jahren in den Kreisen der US-Neokonservativen zu Prominenz und fand so ihrerseits Eingang in die außenpolitische Programmatik der Bush-Regierung. Aus der (angeblichen) Friedens- und Kooperationsfähigkeit demokratischer Staaten werden hier weitreichende Privilegien in Fragen globalen Regierens für Demokratien abgeleitet, während Autokratien zu Staaten zweiter Klasse degradiert werden. Zurecht wurde in der akademischen Debatte über diese Agenda vor manifesten Gefahren gewarnt, die mit einer solchen internationalen Zweiklassengesellschaft einher gehen würden, gerade im Hinblick auf dringlich zu bearbeitende, globale Probleme wie den Klimawandel oder atomare Proliferation. Zudem würde der Versuch der Demokratien, eine derartig stratifizierte Weltordnung zu errichten, das Sicherheitsdilemma zwischen demokratisch verfassten (bzw. vom globalen Nordwesten als solche anerkannten) Staaten und dem als nicht hinreichend demokratisch deklarierten „Rest“ der Welt verschärfen.

Wie die andauernden Querelen über die „Community of Democracies“ zeigen, scheiterte das Programm politisch aber schon beim ersten Schritt – der Verständigung darüber nämlich, welche Staaten eigentlich als hinreichend demokratisch zu werten wären, um in den exklusiven Club der (liberalen?) Demokratien aufgenommen zu werden. Dies verweist bereits darauf, dass eine einfache Dichotomie der empirischen Realität unangemessen ist. Politische Systeme sind mehr oder weniger demokratisch, haben mehr oder weniger autokratische Züge. In Zeiten populistischer und autokratischer Trends auch in Demokratien ist die klare Zuordnung noch schwieriger geworden als in den frühen 2000er Jahren: Legt man die jüngsten Daten des Demokratieindex des V-Dem-Instituts zu Grunde, müssten mit Ungarn und der Türkei sowohl EU- als auch NATO-Mitglieder ausgeladen werden. Und auch Indien stünde demnach mittlerweile auf Seiten der Autokratien um China und Russland. Legt man gar die von Baerbock gesetzte Hürde – der liberalen Demokratien – an, verbleiben im Club der Demokratien gemäß V-Dem noch ganze 34 Länder, die zusammen 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren. Zurecht haben sich deshalb die westlichen Regierungen, darunter die Bundesregierung, in Reaktion auf den Ukrainekrieg im Rahmen der Generalversammlung um eine möglichst globale, von verschiedenen Weltregionen und politischen Regimetypen getragene Verurteilung der russischen Aggression bemüht – eine Verurteilung, die genau nicht auf die insbesondere im Globalen Süden umstrittenen westlichen Demokratievorstellungen rekurriert, sondern auf die tatsächlich praktisch universal geteilte Ablehnung völkerrechtswidriger Angriffskriege.

 

Eine friedenstaugliche Weltordnungspolitik braucht Differenzierung

Baerbocks Aussage, es gäbe keine guten oder schlechten Diktaturen, ist insoweit nachvollziehbar, als jede autoritäre Herrschaftsform per definitionem mit der systematischen Verletzung politisch-bürgerlicher Menschenrechte einhergeht. So wie sich autoritäre Regime allerdings hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Herrschaftssysteme und mit Blick auf das Ausmaß der (Miss-)Achtung von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien teils dramatisch unterscheiden, so handeln sie auch auf internationaler Ebene keineswegs einheitlich. Dies betrifft beispielsweise ihre Kooperationsneigung, ihre Friedensorientierung sowie ihr Interesse und ihre Selbstbindung an eine regelbasierte Weltordnung.

In der Debatte über die Kriegsneigung autoritärer Regime zeigt eine bekannte Studie etwa große Unterschiede je nachdem, wie stark Diktator:innen von inneren zivilen oder militärischen Eliten abhängen und durch sie in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt werden. Demnach bestehen in personalistischen Autokratien deutlich weniger Hemmnisse für die Wahl von Krieg als Mittel der Außenpolitik als in anderen autoritären Systemen. Im Ergebnis sind die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Diktaturen demnach genauso groß wie diejenigen zwischen demokratischen und autoritären Systemen – zumal die Kriegsneigung demokratischer Regime ihrerseits sehr unterschiedlich ausfällt.

Regimetypus und Außenpolitik sind zwar nicht unabhängig voneinander – die extreme Konzentration von Macht in einer einzigen Person, staatlich gelenkte historische Mythenbildung und Unfähigkeit zur Abwägung von Risiken sind Merkmale etwa des russischen Systems, die dessen Angriffskrieg auf die Ukraine erst möglich gemacht haben. Diese finden sich jedoch nicht gleichermaßen in jeder Autokratie. Der Mangel an freien Wahlen und breiten, öffentlichen Debatten beraubt autoritäre Systeme wichtiger Mechanismen zur verständigungsorientierten Politikgestaltung, macht eine solche aber nicht per se unmöglich (so wie umgekehrt die Existenz entsprechender Institutionen in demokratischen Regimen keinen Garanten für Rationalität und Konsensorientierung darstellt). Debatten innerhalb politischer Führungszirkel, die Einbindung wissenschaftlicher Expertise, kontrollierte „autoritäre Deliberation“ und regelmäßige, ergebnisoffene Politikevaluierung sind Merkmale, ohne die etwa das chinesische System seine beachtlichen Modernisierungserfolge der letzten Jahrzehnte nicht erzielt hätte und die zudem eine Status-Quo-Orientierung in der chinesischen Außenpolitik begünstigen. Die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine, mit ihren desaströsen Folgen und unklaren „Erfolgsperspektiven“ im Sinne eines militärischen oder politischen Siegs für Russland, stellt sich deshalb eher als autoritäres Staatsversagen dar denn als notwendiges Produkt eines solchen Systems.

Auch auf Seiten der Demokratien können die gemeinsamen Werte und die Ausrichtung an Völkerrecht und regelbasierter Weltordnung nicht einfach unterstellt werden. Dies gilt bekanntlich nicht zuletzt für die Staaten der G7. Im gegenwärtigen Kontext zeigen sich die unterschiedlichen Haltungen aber stärker zwischen globalem Norden und Süden. Das Sanktionsregime gegen Russland etwa wird hauptsächlich von den traditionellen Industrieländern getragen; zu den Verweigerer:innen zählen nicht nur das autoritäre China, sondern auch die in der Regel als Demokratien kategorisierten Staaten Brasilien, Indien und Südafrika. Die Positionierung der jeweiligen Regierungen speist sich aus unterschiedlichen Motiven. Von einem politisch-ideologischen Zusammengehörigkeitsgefühl oder gar autoritärer Solidarität kann hingegen nicht gesprochen werden. Dies gilt selbst für das klar autokratische China: Während China etwa seine „strategische Partnerschaft“ mit Russland auch nach Kriegsausbruch bekräftigte und russische Narrative übernahm, wird dieses Verhalten durch eine geteilte Bedrohungswahrnehmung gerechtfertigt – spezifisch durch den militärischen und auch normativen Druck, den die USA und ihre Alliierten auf beide Länder ausüben. Eine eigenständige Wertebasis oder eine geteilte systemische Identität fehlt dieser Partnerschaft jedoch, weswegen man sie auch nicht als böses Spiegelbild der „westlichen Wertegemeinschaft“ ansehen sollte. Eine Deutungsfolie, mithilfe derer die globale Auseinandersetzung um den russischen Krieg in der Ukraine oder gar die Zukunft der Weltordnungspolitik im Allgemeinen gemäß einer einfachen Demokratie-Autokratie-Dichotomie sortiert wird, dürfte diese Verwerfungen bloß weiter verschärfen. Damit reduziert sie allgemein die Aussichten einer breiten, globalen Allianz, die sich für eine auf das Völkerrecht gestützte, regelbasierte Weltordnung einsetzt.

 

Keine einfache Auflösung von widersprüchlichen Zielen

Für die derzeitige Debatte bedeutet diese Erkenntnis, dass im Umgang mit autoritären Regimen genau hingesehen und entsprechend differenziert werden sollte. Das heißt: Autoritäre Regierungen sollten – wie übrigens demokratische auch – gemäß ihrem Verhalten beurteilt und behandelt werden. Dabei, auch das gehört zur Ehrlichkeit, sind Zielkonflikte an der Tagesordnung und somit Doppelstandards unvermeidbar. Unbenommen bleibt etwa das folgende Dilemma: Kooperation mit autoritären Staaten kann dazu beitragen, dass verurteilungswürdige politische Zustände und autoritäre Herrschaft in diesen Ländern aufrechterhalten bleiben und stabilisiert werden. Allerdings gibt die Forschung zur Demokratie- und Menschenrechtsförderung wenig Anlass zu glauben, dass scharfe Identitäts- und Freund-Feind-Konstruktionen, die mit einer globalen Lagerbildung einhergehen, dem mittel- bis langfristigen Ziel der Demokratisierung zuträglich sind. Deshalb gilt grundsätzlich: Eine friedens- und sicherheitspolitische Strategie sollte nicht auf den Zusammenschluss der (liberalen) Demokratien bei pauschaler Konfrontation autoritärer Regime setzen, insbesondere nicht durch die Anwendung von Gewalt. Bereits der Eindruck einer regime change-Agenda kann zu Misstrauen und einer Verschärfung von Sicherheitsdilemmata auf der zwischenstaatlichen sowie zu restriktiverer Politik zur Herrschaftsabsicherung auf der innerstaatlichen Ebene führen.

Dieses Plädoyer für eine Kooperations- statt einer Konfrontationsorientierung in der Sicherheitspolitik schließt nicht aus, dass sich Deutschland auf internationaler Ebene weiterhin für Demokratie und Menschenrechte einsetzen kann. Auch ist damit nicht gesagt, dass gegenüber konkreten Autokratien (wie aktuell gegenüber Putins Russland) Konfrontation und militärische Abschreckung nicht nötig sein können. Abzuraten ist aber von Pauschalisierung und einfachen Unterscheidungen. Diese mögen wie praktisches Orientierungswissen erscheinen, entpuppen sich jedoch regelmäßig als zu grob und führen zu einer Verfestigung von klischeehaften Fremdbildern und zur unkritischen Überschätzung neigenden Selbstbildern.

Vor allem birgt die Imagination einer Welt, in der eine liberal-demokratische Festung der allgegenwärtigen Bedrohung durch eine autoritäre Umwelt gegenübersteht, die Gefahr, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Denn zwar ist aktuell noch keine „autoritäre Koalition“ erkennbar, die den Weltfrieden bedrohen könnte. Ein gleichmachendes Othering, das alle nicht-demokratischen Regime einem Lager intrinsisch gefährlicher Autokratien zuordnet, macht ein solches Szenario jedoch wahrscheinlicher. Je intensiver sich das demokratische Lager als liberale und anti-autoritäre Koalition versteht, desto eher wird es für den „Rest“ zu einer rationalen Strategie, sich gegen dieses Lager zusammenzuschließen und wechselseitig in der Herrschaftsabsicherung zu stützen. Wenn es dahin kommt, dann befördern und verschärfen beide Seiten den so geschaffenen Antagonismus – und erhöhen so auch das Risiko seines gewaltförmigen Austrags.

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